Interview mit dem Hirzel-Verlag über unser Buch „Geschädigt statt geheilt“

„Jeder Fall liegt anders und bietet neue Schlupflöcher“

Sie schreiben beide schon seit Jahren journalistisch über medizinische Themen. Gab es ein besonderes Ereignis, das Sie bewogen hat, „Geschädigt statt geheilt“  zu schreiben?

Nein, es gab kein besonderes Ereignis. Wir kennen etliche der Skandale schon länger; einige kamen neu dazu. Das gab dann den Anstoß zum Buch. Persönliche Gespräche mit betroffenen Patienten und die Auseinandersetzung mit deren Schicksalen haben uns sehr bewegt und uns gezeigt, dass diese Entscheidung richtig und wichtig war.

Sie beschreiben zahlreiche Fälle in Ihrem Buch. Wie kann es sein, dass es trotz angeblich strenger Kontrollen und Testphasen immer wieder zu Medizin-Skandalen kommt?

Auch wenn es oft strengere Kontrollen und schärfere Vorschriften gibt – jeder Fall liegt anders und bietet neue Schlupflöcher. Und die Kontrolleure kommen gar nicht hinterher. Mehr Überwachung bedeutet auch mehr Verwaltung, mehr Bürokratie. Das ist politisch heftig umstritten, weil es medizinische Forschung und Entwicklung auch behindern kann. Diese Interessenskollisionen machen politisch und fachlich tragfähige Entscheidungen schwierig und verzögern das Umsetzen. Bei der gegenwärtigen Diskussion um schadhafte und nicht ausreichend geprüfte Hüftprothesen und Brustimplantate (das kommt in unserem Buch auch vor) spielt dies eine erhebliche Rolle.

„Verantwortliche drücken sich vor Aufklärung und Entschädigungen“

Natürlich kommt der Contergan-Skandal in Ihrem Buch vor. Wie konnte es nur wenige Jahre später zu dem ähnlichen Fall rund um Duogynon kommen und warum hat kaum jemand davon gehört?

Vermutlich hat das damit zu tun, dass bei Duogynon die Fehlbildungen meist nicht so sichtbar sind wie bei den Contergan-Opfern. Immerhin haben kürzlich beispielsweise der „stern“ und der Bayerische Rundfunk berichtet, wie sich die Verantwortlichen immer noch vor Aufklärung und Entschädigungen drücken. Dabei sagt eine britische Studie deutlich, dass Zusammenhänge zwischen der Einnahme von Duogynon und Fehlbildungen sehr wahrscheinlich sind. Deutsche Stellen wollen davon nichts wissen.

Sie schreiben über einige Fälle, in denen Medikamente mit Viren infiziert waren. Wie kann es trotz Kontrollen überhaupt zu so etwas kommen?

Das betrifft vor allem den Bluterskandal. Bei den Gerinnungsfaktoren, die f?r Bluter lebensnotwendig sind, sind die Kontrollen seit einigen Jahren offenbar sehr strikt und wirksam. Außerdem werden die Präparate heute gentechnisch hergestellt. Da ging es damals nicht um Vorsatz, sondern um menschliches und technisches Versagen, auch um unzureichende Vorschriften. Aber es wurde damals, als man die für viele Patienten tödlichen Erreger nachgewiesen hatte, immer noch viel zu lange gedeckelt, bestritten und vertuscht.

„Todesbescheinigungen haben oft schwerwiegende Mängel“

Niels H. hat vor wenigen Wochen über 100 Morde gestanden. Wie könnten Vorkehrungen, die so ein Morden verhindern, Ihrer Meinung nach aussehen?

Entscheidend ist, das Verabreichen hochdosierter und nicht indizierter Medikamente besonders durch das Pflegepersonal viel strenger als bisher zu überprüfen. Außerdem muss man bei auffällig vielen Verstorbenen sofort Verdacht schöpfen. Bei unklaren Todesfällen müssen viel öfter Rechtsmediziner einbezogen und Obduktionen vorgenommen werden.

Häufig gibt es schwerwiegende Mängel bei Todesbescheinigungen, wie eine Auswertung der Universität Rostock belegt: Von 10.000 Todesbescheinigungen waren 97,77 Prozent fehlerhaft. In 44 Fällen wurde sogar fälschlicherweise ein natürlicher Tod bescheinigt. In kaum einem Land Europas gibt es so wenige Sektionen wie in Deutschland. Und jeder zweite Leichenschaubefund wird durch eine Sektion korrigiert. Im übrigen hat Niedersachsen k?rzlich ein neues Krankenhausgesetz verabschiedet, das zur erhöhten Sicherheit der Patienten Stationsapotheker vorsieht, doch leider erst von 2022 an.

„Patienten haben ein hohes Prozesskostenrisiko“

In Ihrem Buch spielen hartnäckige Betroffene und engagierte Anwälte eine große Rolle. Würden Sie sagen, es gibt viele Verfahren, die erfolglos und von der Öffentlichkeit unbeachtet bleiben?

Auf jeden Fall. Nur etwa ein Drittel aller Patienten geht nach m?glichen Arztfehlern zu einem Anwalt. Nur jeder Neunte davon erhebt Klage, und von denen wiederum gewinnt wiederum nur jeder Neunte das Verfahren. Das liegt auch daran, dass viele Patienten keine Rechtschutzversicherung haben und einem hohen Prozesskostenrisiko ins Auge sehen müssen. Außerdem liegt – anders als etwa in den USA – die Beweispflicht stets beim Patienten.

Der Apotheker Peter S., der Krebsmittel streckte, hat Revision gegen sein Urteil von 12 Jahren Haft eingelegt. Glauben Sie, er hat Aussichten auf eine mildere Strafe für seine Vergehen?

Die Frage, die vor Gericht verhandelt werden dürfte, ist: Hätte die Krebserkrankung einen positiveren Verlauf genommen, wenn die Patienten das Mittel in korrekter Dosis eingenommen hätten? Das muss für jeden einzelnen Betroffenen bewiesen werden, was faktisch nicht möglich ist. Es wird viele Gutachten geben, es wird lange dauern, manche Betroffene werden das Urteil wohl nicht mehr erleben. In jedem Fall wird der Prozess sie seelisch extrem belasten. Am Schluss steht vielleicht allenfalls ein Vergleich. Auch davon könnte das Strafmaß für den Bottroper Apotheker abhängen. Niemand weiß, ob er in zweiter Instanz milder bestraft wird. Wenn er in dem sehr aufwändigen Verfahren weiterhin keine Silbe zu den zahlreichen Vorwürfen sagt, dürften sich seine Chancen nicht verbessern.

„Kranke und Senioren haben keine starke Lobby“

Glauben Sie, der Pflegemangel in Deutschland wird ebenfalls zum Medizin-Skandal führen?

Das ist ein Dauerskandal, der öffentlich leider noch viel zu wenig wahrgenommen wird. Das Alter und die Möglichkeit, vielleicht selbst einmal pflegebedürftig zu sein, werden gern verdrängt. Das Bundesgesundheitsministerium hat jetzt Pflegeuntergrenzen festgelegt, die von 2019 an gelten, und verkauft sie als Fortschritt: In Geriatrie, Unfallchirurgie und Kardiologie kommen 10 bis 12 Patienten auf eine Pflegekraft (in der Nachtschicht sind es 20 bis 24), die damit natürlich völlig überfordert ist. Deutschland ist und bleibt im internationalen Vergleich Schlusslicht bei der Personalausstattung. Doch Kranke und Senioren haben keine starke Lobby.

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